Tendu, Fondu, Plié – Das Streben nach Perfektion

Cara Rother ist sechzehn und ging vor 12 Jahren das erste mal in eine Ballettstunde. Ein Leben ohne Tanz kann sie sich heute nicht mehr vorstellen. Ein Jahr lang besuchte sie in Essen ein Ballettinternat. Dort hatte sie montags bis freitags erst acht Stunden regulären Unterricht, bevor vier Stunden Tanz angesagt waren. Seit September ist Cara zurück in Hannover und geht wieder ganz normal aufs Gymnasium. Hier trainiert sie mehr als je zu vor - bis zu 24 Stunden pro Woche. Zeit und Kraft für Freunde oder andere Hobbies bleiben kaum, doch ist es ihr jedes Opfer wert. Denn in einem Jahr muss sie sich beim Vortanzen beweisen, um an einer der grossen Tanzhochschulen genommen zu werden und ihrem Traum, professionelle Tänzerin zu werden, ein Stückchen näher zu kommen.

„Meine erste Ballettstunde hatte ich mit vier. Ich glaube, meine Oma wollte damals, dass ich anfange zu Tanzen. Seit vier Jahren trainiere ich jetzt wirklich intensiv, sechs Mal die Woche.“
Oft hat Cara mehrere Tanzstunden am Tag, manchmal auch vier Stunden am Stück. Pro Monat tanzt sie zwei Paar Spitzenschuhe durch, die je 70-120 Euro kosten.
Vor zwei Tagen hat Cara sich einen Zeh gebrochen, trotzdem geht sie ganz normal zur Probe. Den Schmerz sieht man ihr nur in den Pausen an.
Bei einer Privatstunde korrigiert Ballettlehrerin Beth Petkus Caras Fusspostion. Im normalen Training kommen feine Korrekturen auf Caras Niveau manchmal zu kurz.
Nach dem Training lockert Cara erstmal ihren Fuss. Der Nagel vom grossen Zeh ist vom Tanzen in den Spitzenschuhen blau geworden und wird bald abfallen.
Im Internat kühlt Cara ihren Fuss in einem Eimer mit Eiswasser, während sie mit ihrer Zimmergenossin Miri über die Tänzer des Aalto Theaters in Essen spricht. Gemeinsam mit ihnen führen sie das Stück „Queeny“ auf.
Während sie aufs Ballettinternat geht, sieht Cara ihre Eltern und ihren kleinen Bruder nur am Wochenende. In ihrem Zimmer in Essen stehen und hängen überall Fotos von Familie und Freunden.
Seit sie nicht mehr in Hannover aufs Gymnasium geht, hält ihre beste Freundin Linda sie über den Freundeskreis auf dem Laufenden. Trotzdem hat Cara das Gefühl, nichts mehr mitzubekommen.
Für andere Hobbys hat Cara neben dem Tanzen keine Zeit. An freien Wochenenden verbringt sie die Nachmittage mit ihren Freundinnen.
Cara schreibt gute Noten in der Schule, obwohl sie nicht viel dafür tut. „Hausaufgaben mach ich nur selten, meistens fehlt mir dazu die Kraft.“
„Eigentlich tut mir auch immer irgendetwas weh: Rücken, Zehen, Beine, aber so ist das halt.“
„Es geht immer noch besser, es ist eigentlich nie perfekt genug. An irgendwas kann man immer Arbeiten. Aus der Schülerposition kommt man ein Leben lang nicht raus.“
„Fürs Ballett habe ich nur mässige Voraussetzungen. Meine Körperproportionen sind ganz ok und meine Füsse gut. Aber mein Auswärts könnte besser sein und mein Rücken ist von Natur aus nicht sehr beweglich. Deswegen muss ich umso härter trainieren.“
Christine Reinicke ist ehemalige Solistin der Staatsoper Hannover, Cara geht regelmässig zu ihr in ins Training. Caras Eltern bezahlen jeden Monat 260 Euro für die Ballettstunden ihrer Tochter.
Obwohl sie vom Unterricht komplett erledigt ist, ist ihr Tag noch nicht zu Ende. Zu Hause dehnt sich Cara und macht oft noch ein Workout.
In Freistunden fährt Cara oft ins Internat und legt sich schlafen. Bei Schule und Training ist sie sonst oft nicht vor 22 Uhr zu Hause.
In jeder freien Minute denkt Cara ans Tanzen, beim Zähneputzen macht sie Tendus. „Ich kann nicht stillhalten.“
Wegen ihres gebrochenen Zehs soll sich Cara beim Training schonen. Sie ist frustriert, dass sie nicht tanzen kann.
„Die Kunst ist, dass keiner merkt wie sehr es weh tut.“
Für ihr Stück „Queeny“ im Aalto Theater Essen, probiert Cara mit ihren Klassenkameradinnen die Kostüme an.
Vor der Hauptprobe schminken sich die Mädchen vom Ballettinternat gegenseitig. Voller Vorfreude und ein bisschen aufgeregt blicken sie der Vorführung entgegen.
Auf der Seitenbühne dehnt sich Cara vor dem Auftritt, gleich beginnt die Show.
Vor der Aufführung hat Cara noch eine Schmerztablette genommen und durch das Adrenalin spürt sie ihren gebrochenen Zeh nicht.
Das Stück „Queeny“ ist ein voller Erfolg. Dreimal tanzt Cara auf der Bühne vom Aalto Theater in Essen. Dreimal ausverkauftes Haus.
Nach der letzten Aufführung ist Cara erleichtert und glücklich, trotz ihres gebrochenen Zehs ging alles gut. Den Applaus geniesst sie in vollen Zügen. „Das sind die Momente, für die ich das alles mache.“
Als Cara nach einem Jahr Ballettinternat wieder nach Hannover geht, fällt der Abschied von ihren Freundinnen schwer. „Klar will ich zurück, aber die Mädchen hier werden mir trotzdem fehlen.“ Der nächste Besuch ist aber schon geplant.